Willkommen im Babyland Frankreich

Weshalb in Frankreich Frauen die Balance zwischen Kindern, Beruf und Haushalt schaffen.

393211_10151195707014537_1881860727_n[1]

Sonntags verstopfen in Paris die vielen Kinderwagen das Trottoir am Markt des 15. Arrondissements. Weiter vorne lachen, plärren und streiten die Dreikäsehochs während einer Fahrt auf den schönen Holzpferden des bis auf den letzten Platz besetzten Karussells. Die Eltern schlürfen inzwischen einen Kaffee oder lesen die Zeitung. In diesem familiären Quartier mit über 200 000 Einwohnern (!) lebt das junge Kader und das alteingesessene Bürgertum. Doch auch in volkstümlicheren Vierteln ist der Babyboom nicht zu übersehen. Die Frauen stossen oft bis zu drei Kinder in einem mit Trittbrett ausgerüsteten Kinderwagen durch den Verkehr. Das Kreischen der Kinder erklingt ohrenbetäubend aus den in der ganzen Stadt verstreuten Spielplätzen und Parkanlagen. Im Schatten der Platanen plaudern wochentags die Babysitterinnen. Sie lassen die ihnen anvertrauten Säuglinge nicht aus den Augen, verabreichen den einen den Schoppen, füttern andere mit Brei, putzen Nasen oder nehmen die Weinenden herzhaft in die Arme. Willkommen in Frankreich, wo das Kind ein kleiner König ist.

Boomende Geburtenzahlen
Die Geburtenzahlen sind beeindruckend: 821 000 Babys wurden 2009 in Frankreich geboren, 53% davon ausserehelich. Ein Zeichen dafür, dass es der Französin nicht um Konventionen geht. Dank durchschnittlich zwei Kindern pro Frau erreicht Frankreich heute wieder die Geburtenrate der 80er-Jahre. Ein Vergleich mit der Schweiz, die rund neunmal weniger Einwohner zählt, scheint auf den ersten Blick irrelevant. Doch man freut sich auch hier seit 2005 über einen jährlichen Anstieg von rund 6000 Geburten. Immerhin: 78 286 Babys kamen im letzten Jahr in der Schweiz zur Welt, und die Stadt Zürich geniesst den erstmaligen Geburtenüberschuss seit 1965. Trotzdem erneuert weder Deutschland mit 1,3 Kindern pro Frau noch die Schweiz (1,5) die Bevölkerung. «Kein Staat kann es sich leisten unterzugehen», sagt Elisabeth Badinter. Die französische Feministin und Philosophin löst mit ihrem kürzlich in deutscher Sprache erschienenen Buch «Der Konflikt. Die Frau und das Kind» heftige Kritik aus. Sie prangert darin den unter den jungen Französinnen aufkommenden und in deutschsprachigen Ländern seit Jahren verbreiteten Trend der ganzheitlichen Mutterschaft an, weil er die feministischen Errungenschaften der 70er-Jahre gefährde. Trotz der vielen Kinder sind fast 60% der französischen Mütter voll erwerbstätig – die einen aus wirtschaftlichem Zwang, die anderen der finanziellen Unabhängigkeit oder beruflichen Selbstverwirklichung zuliebe. Laut der OECD-Studie «Babys and Bosses» (2005) liegt zwar die Erwerbstätigkeit der Schweizer Mütter um 10% höher als diejenige ihrer westlichen Nachbarinnen. Sie gehen jedoch zur Mehrheit einer Teilzeitarbeit nach. In Frankreich sind es nur 20%. Doch die Schweizerinnen wie auch viele Deutsche, Österreicherinnen und Italienerinnen müssen mangels Betreuungsangebot oft zwischen beruflicher Karriere und Mutterschaft entscheiden. Dieses Dilemma existiert in Frankreich nicht. Es lohnt sich deshalb, das französische Modell näher zu beleuchten.

Die Frau ist mehr als nur Mutter
Erwerbstätige Mütter als Rabenmütter zu verurteilen, liegt den Franzosen fremd. Diese lockere Mentalität stammt aus dem 17. Jahrhundert, als die französische Aristokratie ihre Säuglinge an Ammen abgab, die Buben ins Internat und die Mädchen ins Kloster steckte. Auch die Armen gaben die Kinder weg. «In Frankreich kann man die Frau nicht auf die Mutterrolle beschränken», erklärt Badinter, die in «Der Konflikt» einen internationalen Vergleich aufstellt. «Wir berücksichtigen, dass die Frau soziale und kulturelle Verpflichtungen hat.» Ein Beweis dafür ist die Popularität von Rachida Dati, obwohl die glamouröse Ex-Justizministerin vier Tage nach der Geburt ihrer Tochter an einer Ministerratssitzung teilnahm. Auch die Chefin von Frankreichs Atomgigant Areva, Anne Lauvergeon, wird für die von ihr wie nebenbei gebärten Kinder bewundert. Der Alltag der erwerbstätigen französischen Durchschnittsmütter ist jedoch kein Kinderspiel. Alles muss frühzeitig und perfekt organisiert sein. Kaum war die 35-jährige Grafikerin Alice schwanger, sorgte sie sich um einen Krippenplatz. Denn wer in Paris sein drei Monate altes Baby nach dem Schwangerschaftsurlaub in die Krippe geben will, muss es schon im sechsten Schwangerschaftsmonat einschreiben. 32% der bis zu drei Jahre alten Parisiens verbringen gegenwärtig jeden Tag in der Krippe. «Für meine Tochter stellte das kein Problem dar. Ich aber ging manchen Morgen mit Tränen zur Arbeit», erinnert sich Alice. Schuldgefühle und Sehnsüchte quälen viele. Kaum sind aber ihre «Puces» und «Anges» eineinhalbjährig, muss die Einschreibung im Kindergarten erledigt werden.

Krippen rund um die Uhr
Auf «Papa Poule» kann die Französin nur beschränkt zählen. 80% der familiären Organisation und des Haushaltes besorgt noch immer sie. «Es stimmt schon, dass die Väter die Kinder öfter in die Krippe bringen. Sie wissen aber noch immer nicht, welche Kleider den Kindern gehören oder was am nächsten Tag abläuft», erzählt Natalia Baleato, Gründerin und Direktorin der Krippe Babyloup in der Banlieue Chanteloup-les-Vignes, die rund um die Uhr geöffnet ist. Die resolute Frau kam ursprünglich in diese Immigrantensiedlung, um den Frauen in der Aids-Prävention beizustehen. «Ich habe aber schnell begriffen, dass sie viel mehr Krippenplätze brauchen, weil ein Grossteil der Männer arbeitslos oder abwesend war.» Deshalb kommen nun auch die nachts oder am Wochenende arbeitenden Raumpflegerinnen, Krankenschwestern oder das Hotel- und Restaurantpersonal in den Genuss qualifizierter Kinderbetreuung.
Elisabeth Badinter Der Konflikt. Die Frau
und die Mutter. Verlag C. H. Beck, München,
Fr. 34.90.

Erschienen in der AARGAUER ZEITUNG, Baden, Schweiz, 15. Oktober 201à