Gegen die Macht der Männer

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Er ist aus dem Patriarchat des Islams ausgestiegen, um sich als homosexueller Imam selbst zu verwirklichen: Der Theologe, Anthropologe und Psycho-Soziologe Ludovic-Mohamed Zahed (39) distanziert sich von allen Dogmen und interpretiert den Islam völlig liberal. Der HIV-positive Imam hat selbst einen Mann geheiratet und in Stockholm zwei iranische Lesben vermählt. Um die Qualen homosexueller Muslime zu dämpfen, gründete der algerisch-französische Doppelbürger in Paris und Marseille die ersten LGBT-Moscheen Frankreichs.

Interview: Esther Elionore Haldimann

Warum braucht es Moscheen für Homosexuelle?
Ludovic-Mohamed Zahed: Es handelt sich nicht um eine Moschee für Homosexuelle, sondern eine, die alle einschliesst, Heterosexuelle, Homosexuelle, Lesben, Transsexuelle und die Frauen. Die sexuellen Minderheiten und die Frauen sind die Avantgarde der fortschrittlichen Reformen und moralischen Urteile. Es geht um ganz neue Beziehungen zur Religion ohne Dogmen, eher philosophisch, in der Richtung wie man heute den Buddhismus empfindet. Der Islam befindet sich in einer Entwicklung, die die Frauen und die Homosexuellen aus einem Bedürfnis heraus eingeleitet haben. Es hätte ein Hetero sein können, doch diese gehen in traditionelle Moschee wie alle anderen.

Sie lehnen sich vor allem gegen das Patriarchat im Islam auf. Warum werfen sie die Homosexuellen und die Frauen in den gleichen Topf, was ihre Diskriminierung betrifft?
Weil ich gegen jedes Patriarchat bin, wo immer es sich befindet. In den traditionellen Moscheen werden die Frauen ganz nach hinten verfrachtet, manchmal beten sie sogar draussen im Garten. Durch solch unkomfortable Plätze werden sie nicht motiviert. Ausserdem erfahren die Frauen ganz allgemein noch heute die grösste Gewalt zuhause von den Männern, auch hier im Westen. In der heutigen arabisch-muslimischen Welt ist die Dynamik der Hinterfragung der Identität in Gange: Muss man derart viril und männlich, stark und gewalttätig sein?

Befindet sich der Islam weltweit nicht eher im Rückschritt zum Fundamentalismus?
Die Abkapselung in den Kommunitarismus und den Radikalismus ist eine störrische Reaktion auf eine Entwicklung, die bereits in Gange ist. Man weiss nicht wie sich in Zukunft entwickeln wird, aber man kann eine Reform des Islams aller beobachten. Die Fortschritte kommen in der arabisch-muslimischen Welt weniger schnell voran als in Europa. Das ist auch gar nicht wünschenswert. Sie müssen ihren eigenen Weg finden, einen demokratischeren, alle einschliessenden. Würden wir ihnen ein Modell aufzwingen, stiessen wir auf totale Ablehnung wie wir es im Irak beobachten. In Tunesien hingegen sind die Menschen offener als anderswo in der muslimischen Welt, weil es dort keine strategischen Interessen gibt, was das Erdöl betrifft. Auch die Konservativsten machen Fortschritte. Klar wollen die Salafisten als Rigoristen zurück zum Ursprung. Die Muslimbrüder stehen zwar für die Anpassung des Dogmas, das das gleiche bleibt, sich aber an die moderne Realität anpasst, was seine Konturen betrifft. Beide verleihen dem Dogma sakralen Charakter. Doch das Dogma in sich ist faschistoid.

Wie gehen schwule und lesbische Muslime heute in Frankreich mit der Islamophobie um?
Persönlich kann ich heute meine Homosexualität und Spiritualität zufrieden ausleben. Homosexuelle Muslime werden aber doppelt diskriminiert; als Muslime oder Araber unter den Franzosen; als Homosexueller in der Familie und dem Islam. Das kann eine grosse Chance sein, ist aber auch der Grund tiefer Depressionen. Unter den jugendlichen Suizidfällen Frankreichs befinden sich 15 Prozent mehr Homosexuelle. Bei den Muslimen müssen es noch mehr sein. Es gibt keine ethnischen Statistiken, doch ich bin davon überzeugt. Die Moschee für alle ist deshalb nicht ein politisches oder ideologisches Projekt, sondern in erster Linie ein Ort, der alle empfängt, damit mehr überleben.

(AP Photo/Claude Paris)

(AP Photo/Claude Paris)

Doch braucht es nicht mehr Einfluss in die Familien, die ihre homosexuellen Kinder ablehnen oder zur Heirat zwingen?
Tatsächlich werden viele von den Familien unter Druck gesetzt, damit sie sich verheiraten. Deshalb kommt es zu zahlreichen Ehen zwischen Schwulen und Lesben. Jeder hat dann einen Liebhaber oder eine Freundin. Das erlaubt ihnen, Kinder zu haben und in der Familie integriert zu sein. Denn kinderlos existiert man in diesen Familien nicht.

Was sagt der Koran zu einer solchen Unehrlichkeit? Muss ein guter Muslim nicht ehrlich und treu sein?
Wem gegenüber, sich selbst oder der Familie? Das ist die Frage. Ein Vers des Korans sagt, dass man seine Eltern respektieren muss. Übertritt ihr Wunsch jedoch die persönlichen Prinzipien und Werte, muss man nicht gehorchen. Wenn Schwule oder Lesben zur Ehe gezwungen werden, dürfen sie sich eigentlich weigern. Denn ist es ehrlich, seine Kinder derart unter Druck zu setzen? Meine eigene Mutter glaubte auch zu wissen, was das Beste für mich ist. Sie brauchte zehn Jahre, um meine Homosexualität zu akzeptieren. Schliesslich hat sie sogar meinen Ex-Mann während des Ramadans zuhause empfangen. Aus Respekt vor sich selbst, muss man seine Ehrlichkeit durchsetzen. Wenn man mit sich selbst ehrlich ist, folgt der Rest.

In arabisch-muslimischen Kreisen ist die Homophobie aber noch weit verbreitet. Sie behaupten, dass der Koran sie in keiner Weise verwirft.
Er spricht vom « sexuellen Extremismus ». Die Homosexuellen aber empfinden sich nicht als Extremisten, sondern als Menschen mit Empfinden für Gleichgeschlechtliche. In der Erzählung im Koran von Sodom und Gomorra geht es um Patriarchen, die Männer und Frauen vergewaltigen, die versuchen, Lots Töchter zu vergewaltigen. Zudem war Lots Frau keine Lesbe, sondern eine Sodomitin. Das alles hat nichts mit der Homosexualität zu tun, wie wir sie heute definieren. Es handelte sich im Grunde um einen heidnischen Kult gegenüber Fremden. Kein anderes Volk soll sich solchen Schändlichkeiten hingeben, ist der sinnbildlichste Vers im Koran, wobei man jedoch nicht weiss, um was für Schändlichkeiten es sich genau handelt. Für mich geht es um patriarchale, rituelle Vergewaltigungen nicht aber um die Homosexualität. Hingegen steht im Koran (17.84-86): « Jeder handelt entsprechend seines Genres (schakila)». Das ist sehr modern. Klar wird auch von Mann und Frau als Gatte und Gattin gesprochen, schliesslich besteht die Bevölkerung, einst oder jetzt, hier und anderswo, mehrheitlich aus Heterosexuellen. Das will aber nicht heissen, dass es keinen Raum für die Vielfalt gibt. Der Koran erzählt von Männern und Frauen, die nicht heirateten, die man nicht dazu zwingen darf. In den Überlieferungen der Hadith werden die Mukhanaothun (Androgyne) explizit erwähnt. Sie kleideten und schminkten sich bunt wie die Frauen, pflegten Beziehungen unter sich, wurden aber auch als sexuelle Objekte während den Schlachtzügen missbraucht. Der Prophet sagt ihnen nicht, sie seien eine Schande, ich werde euch alle töten, nein, er sagt, man dürfe sie nicht zu sexuellen Beziehungen zwingen.

Warum werden dann weltweit noch heute in sieben Ländern Homosexuelle zum Tode verurteilt?
Der heutige Schwulenhass hat mit der Politik, dem faschistischen Patriarchat und dem wirtschaftlichen Umfeld zu tun. Alle sieben Länder sind muslimisch. Laut dem neuen Strafgesetzbuch des Irans, werden die Homosexuellen laut ihrer Rolle bestraft: Nur der passive Partner wird erhängt, weil er als nahe der Weiblichkeit empfunden wird und entsprechend die Männlichkeit schwächt. Der aktive Partner hingegen, der sich ihrer Meinung nach eher auf der Seite der Männlichkeit, der Macht, befindet, kommt mit einer Auspeitschung davon. Ein Flüchtling aus dem Irak hat mir erzählt, dass 130 Personen in Mossul wegen Homosexualität durch die djihadistische Organisation Islamischer Staat getötet worden sind. Sie würfen sie von den Minaretten hinunter. In Saudi Arabien werden sie geköpft. Davon steht aber nichts im Koran oder der Tradition des Propheten. Das sind reine Erfindungen. Die Archive des ottomanischen Reiches aus dem 16. Jahrhundert beweisen, dass niemals jemand wegen Homosexualität verurteilt worden ist.

Warum werden sie dann heute diskriminiert?
Die berühmte, 1825 in Ägypten herausgegebenen „Tausend und eine Nacht“, die schon seit Jahrtausenden existierte, wurde nach dem Zerfall des ottomanischen Reiches von allem gesäubert, was die Sexualität der Frau und der Schwulen betraf. Das hetero-faschistische Patriarchat wurde zur Entwicklung eines arabischen Nationalismus benutzt, den das ottomanische Reich, die Engländer und die Franzosen erstickt hatten. Es handelt sich aber durch und durch um einen grässlichen Männlichkeitswahn, der mit der Spiritualität nichts gemein hat.

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Wollen sie damit sagen, dass die heutige Homophobie des Islams aus dem Kolonialismus gewachsen ist?
Und mit dem Zerfall des ottomanischen Reiches, der die arabisch-muslimische Welt allen möglichen Aggressionen ausgeliefert hat. Die Kolonialstaaten haben Minderheiten diskriminiert. Noch vor 150 Jahren erlebten wir das Gegenteil: Die in Frankreich verfolgten Homosexuellen kehrten in den Maghreb oder den Mittleren Osten zurück, wo sie ihre Sexualität diskret leben konnten. Der Wandel ist aus geopolitischen Gründen entstanden. Der Islam als Zivilisation wurde durch den Faschismus, die Massaker der Minderheiten, die Kontrolle der Identitäten, die Macht der Männer heimgesucht.

Sie hingegen haben sich selbstverwirklicht. Wo holen sie den Mut her?
Hat man Aids, die Homosexualität, den Islamismus und den Rassismus am eigenen Leibe erlebt, besitzt man einen dicken Panzer. Heute lebe ich gut und glücklich. Ich denke aber an all jene, die sich total verloren fühlen. Heute besitzen die Mitglieder unserer Vereinigungen ihre eigenen Kompetenzfelder. Die Bewegung ist daran, sich zu festigen. Wir müssen weitermachen.

Zur Person: 

profil - barceloneLudovic-Mohamed Zahed ist ein Schnellsprecher, der dennoch jedes Wort auf die Waagschale legt. Er kommt zum Interview in salopper Freizeitkleidung ins Pariser Gay-Viertel, wo  der Imam sein letztes Buch „LGBT-Musulman.es“ in einer Buchhandlung signiert. Doch so locker wie er heute wirkt, war sein bisheriges Leben nicht. Zwanzig Jahre Nachdenken habe es gebraucht, sagt er bei einer Tasse Kaffee in einer Marais-Bar. Der 39jährige hat sein ganzes Leben damit verbracht, mit sich ins Reine zu kommen, denn „Ludo“ wurde 1977 in Alger in zwei Kulturen hineingeboren. Kaum zweijährig, zog die fünfköpfige Familie ins „trübe“ Paris; das helle Licht Algers erblickte der Knabe weiterhin während den Ferien. Schliesslich kehrten alle zurück in die Heimat, doch sein grosser Bruder hat ihm dort bald mit Schlägen beigebracht, was ein Mann ist. Er aber verliebte sich in einen Salafisten, mit dem er fünf Jahre lang betete und studierte. Mitten im Algerischen Bürgerkrieg kam der Maturand 1995 durch den Terroranschlag der Islamisten in Alger zur Besinnung. Die Familie liess sich sofort in Marseille nieder, und Ludovic kehrte dem Islam den Rücken.

Aids-positiv mit neunzehn, hat der Wissenshungrige zuerst Psychologie studiert und sich dem Buddhismus zugewandt. Als Zahed auch in dieser Religion den Frauen- und Schwulenhass entdeckte, nahm er den Islam aus einem neuen Blickwinkel in Angriff, was zu seinem Doktorat „Les minorités sexuelles à l’avant-garde des mutations du rapport à l’Islam de France“ (Die sexuellen Minderheiten als Avantgarde der Beziehungsveränderungen des Islams in Frankreich) geführt hat. Jetzt war er der Avant-Gardist: 2010 gründete der Anthropologe Frankreichs erste Vereinigung homosexueller Muslime HM2F und 2012 die erste LGTB-Moschee (2012) in Paris. Seine 2010 in Südafrika besiegelte Ehe mit einem Mann ist 2014 in Brüche gegangen, auch darüber plaudert der hagere Feinfühlige offen. Alle Türen stehen ihm jedoch nicht offen: Für die Universitäten sei er zu schwul und zu islamisch, weshalb man ihm keine Professorenstelle gewähre. Das sei bitter, mache aber nichts, sagt er. Als freier Wissenschaftler in Marseille, bereise er jetzt die halbe Welt. Mehr dazu auf seiner Homepage www.calem.eu und in seinem Buch „Le Coran et la Chair“, Max Milo, Paris, 2012   (Bilder: zvg)