Das Volk hat das letzte Wort

Plötzlich macht alles keinen Sinn mehr. Die alten Dieselmotoren, die gesundheitsschädigende Partikel in Höhe der Kindernasen verbreiten, werden weiterhin durch Paris tuckern. Denn Emmanuel Macron musste nachgeben: Die verschärfte Schadstoffprüfung der Fahrzeuge wird im Januar nicht in Kraft treten. Ebenso wird die geplante Benzinsteuererhöhung, die zum Teil für die Energiewende eingesetzt werden sollte, vorerst für sechs Monate auf Eis gelegt. Dabei war es vor allem die unter Luftverschmutzung leidende Pariser Bevölkerung, die 2017 für Macron gestimmt hat. Nur die Hälfte der Hauptstadtbewohner besitzt überhaupt ein Auto, und nur wenige benützen es, um zur Arbeit zu fahren. Rund 70 Prozent geht zu Fuss und per Metro, Tram, S-Bahn, Velo oder Trottinette. In Paris gibt es gar keine gelben Westen, die vielmehr die Provinz vertreten. All diejenigen, die vom günstigeren Quadratmeterpreis weit entfernt der Agglomerationen profitiert und sich anstatt einer winzigen Grossstadtwohnung ein viel günstigeres Eigenheim auf dem Lande errungen haben. Viele verdienen jedoch nur den Mindestlohn von 1200 Euro netto pro Monat. So bringen sich zahlreiche Familien mit zwei oder drei Kindern durch, spartanisch und präzis budgetiert. Das Geld reicht nur für das Notwendigste, die Festkosten, das Benzin. Brauchen die Kinder neue Sneakers, verzichtet die Mutter auf den Frisör. Die Französin ist stark in Sachen système D für „se débrouiller“ –  das heisst, sich kreativ mit allem demjenigen behelfen, das günstig den Alltag durchbringt und erhellt. Doch nun ist sie erschöpft. Kunst und Kultur fliessen zum Glück durch ganz Frankreich, doch Millionen Franzosen schlagen sich qualvoll durch die letzten Monatstage, wenn das Konto schon zu tief im Minus steckt.

Um seine Wähler, die Einkommenssteuer zahlende Mittelschicht, zu entlasten, besteuert Macron seit einigen Monaten auch die Rentner, falls sie mehr als das Existenzminimum von 1200 Euro Pensionsgeld erhalten. Deshalb ist das Durchschnittsalter der gelben Westen hoch. Die jungen Leute setzen sich fast nur in Form derjenigen Samstags-Demonstranten in Szene, die alles mit Hammer und Baseball-Schläger kurz und klein schlagen. Autos, nur wenige Schritte vom Triumphbogen, entzünden, als wäre das Ganze ein fesselndes Videogame. Neonazis und extreme Linke schlagen auch zu. Alle gelben Westen möchten den Sturz Macrons oder verlangen die Auflösung des Parlamentes gefolgt von Neuwahlen, wenn nicht überhaupt eine VI. Republik mit mehr Initiativrechten für das Volk.

Macron stärken nur etwa zwanzig Prozent der Stimmbürger den Rücken, die im ersten Wahlgang der letzten Präsidentschaftswahlen für ihn gestimmt hatten. Andere Sozialisten, Bürgerliche und das Zentrum haben dann in der Stichwahl Macron gewählt, um eine rechtsextreme Präsidentin, Marine Le Pen, zu vermeiden. Mit seiner Steuerreform hat der Finanzspezialist aber seither viele Sozialisten verärgert. Überhaupt existiert die sozialistische Partei, die PS, so gut wie nicht mehr und die Bürgerlichen sind geschrumpft. Macron hat das traditionelle Parteiensystem mit seinem „gleichzeitig rechts und links“ zerstört. Jetzt, in einer äusserst delikaten Lage und der Angst vor einem Bürgerkrieg im Bauch, kann der französische Präsident nur auf die Unterstützung seiner Partei, „La République en Marche“, und des Zentrums zählen.

Nochmals die Champs-Elyseen in Feuer und Flamme zu erleben, ist unvorstellbar. Doch trotz der Einstellung der geplanten Benzinsteuer, die jetzt auch noch die Grünen und die Parisiens misslaunt, wollen die gelben Westen viel mehr; mehr Kaufkraft, mehr Macht. Der Wunsch nach der Energiewende der einen und dem Bedürfnis des Autos anderer müssen struktureller angegangen werden. Auf dem Lande braucht es bessere öffentliche Verkehrsmittel. Ebenso erleichtert die Reduktion der Postämter und Krankenhäuser in abgelegenen Gegenden den von Macron geplanten Ausstieg aus der Erdöl Ära nicht. Er setzt den Massstab zu hoch. Zu einer solchen Energiewende mit noch mehr Taxen sind die Franzosen nicht bereit. Ihre Kosten müssten anders finanziert werden. Es bräuchte eine tiefe Steuer-, Finanz- und Staatsreform. Doch die Regierung wirkt zu perplex, um die ganze Situation überhaupt in den Griff zu bekommen. Der Traum der neuen, französischen Gesellschaft – der jungen, progressiven „Macronie“, die sich um jeden Bürger kümmert – zerbricht wie ein Kartenspiel. Zum aktuellen Zeitpunkt sieht niemand einen Ausweg. Die gelben Westen rufen erneut zu Demonstrationen am nächsten Samstag in Paris auf, das wie ein gepeinigter Beobachter zittert.

Fahrplan der Präsidentschaftswahlen Frankreichs

 

drapoFrankreichs Präsident(in) wird in zwei Wahlgängen, am 23. April und 7. Mai 2017 für eine Amtszeit von 5 Jahren gewählt

Wer 500 Unterschriften von Mandatsträgern erhält, kann sich am ersten Wahlgang beteiligen. Nur die beiden erst Platzierten kommen anschliessend in die Stichwahl

Marine Le Pen hat ihre Kandidatur am 8. Februar bekanntgegeben

Seit 2007 führen die Sozialisten ähnlich wie in den Vereinigten Staaten eine öffentliche Vorwahl durch, um ihre(n) Kandidat(in) zu bestimmen. 2007 war es Ségolène Royal, 2012 François Hollande. Dieser gilt als bisheriger Staatschef für eine zweite Amtsdauer als naturgemässer Kandidat. Doch die Sozialisten planen dennoch eine Vorwahl. Es kandidieren insbesondere die Ex-Minister Arnaud Montebourg und Benoit Hamon. Ganz Frankreich rechnet auch mit der Beteiligung von Emmanuel Macron und seiner Bewegung En Marche.

Heiss wird es ebenfalls bei den Bürgerlichen: Sie führen am 20. November 2016 überhaupt zum ersten Mal eine Vorwahl durch, um ihren Präsidentschaftskandidaten zu bestimmen.  Elf namhafte Politiker(innen) – neun Männer und zwei Frauen – haben ihre Beteiligung bereits offiziell bekanntgeben. Bekämpfen werden sich vor allem Altpräsident Nicolas Sarkozy sowie die beiden Alt-Premierminister Alain Juppé und François Fillon. Ex-Landwirtschaftsminister Bruno Le Maire (50) besitzt kleine Chancen, viel Charme und junges Blut.